Wenn meine Mutter nur nicht so viel trinken würde...

Wut, Scham, Angst, Verantwortung, Misstrauen – diese fünf Gefühle haben Kinder aus suchtbelasteten Familien in diversen Therapie-Sitzungen mit unseren Fachmitarbeiterinnen benannt, als sie auf ihre Emotionen in Bezug auf das Suchtverhalten ihrer Eltern angesprochen wurden. Sie fühlen sich überfordert, verzweifelt und häufig auch wütend.

In der Schweiz leben rund 100’000 Kinder mit einem Elternteil, der Alkohol oder eine andere gefährliche Substanz auf problematische Weise konsumiert und in einem grossen Teil der Fälle abhängig ist. Wie gross die Dunkelziffer ist, lässt sich schwer einschätzen. Zu gross ist die Angst der Eltern vor dem Entzug der Erziehungsberechtigung. Dies erschwert eine realistische Selbsteinschätzung und einen offenen Umgang mit dem Thema sowie den Zugang zu Therapieangeboten für alle betroffenen Kinder.

In der Zwischenzeit müssen sich diese Kinder und Jugendlichen häufig allein den negativen Gefühlen stellen und mit ihnen zurechtkommen. Sie schämen sich für das peinliche oder ungewohnte Verhalten eines suchtkranken Elternteils, fühlen sich allein gelassen und ziehen sich von Klassenkameraden zurück. «Ich möchte meine Freunde nach Hause einladen, aber ich schäme mich, wenn mein Vater kifft und nur rumhängt – darum lasse ich es sein», so lautet die Aussage eines betroffenen Kindes.

Oder sie übernehmen Aufgaben oder eine Rolle gegenüber jüngeren Geschwistern, die nicht ihrem Alter entsprechen. «Ich habe heute Morgen den Bruder angezogen und ihn in den Kindergarten gebracht, weil es meiner Mutter wieder schlecht ging und sie nicht aufgestanden ist.» Das führt dazu, dass die eigenen Bedürfnisse der Kinder auf der Strecke bleiben. Sie fühlen sich verantwortlich gegenüber den Geschwistern und auch dafür, mit Lügen gegenüber Lehrerinnen und Lehrern und anderen Bezugspersonen, das Familiengeheimnis zu wahren und die Verhältnisse zu Hause zu vertuschen.

Natürlich begleitet sie immer auch die Angst um das Wohlergehen der suchtkranken Eltern. «Ich habe Angst einzuschlafen und mache mir Sorgen. Was ist, wenn meinen Eltern etwas passiert, wenn sie die ganze Nacht unterwegs sind?» Wie sollen Kinder in diesem Umfeld Ruhe und Geborgenheit finden? Wie können sie lernen, mit der Anspannung zurechtzukommen und einfach mal abzuschalten?

Die Überforderung und Verzweiflung führen zwangsläufig zu Wut. Wut auf sich selbst, aber auch auf den suchtkranken Elternteil, der für ihr Unvermögen und die komplizierte Situation verantwortlich gemacht wird. So lautet beispielsweise die Aussage eines betroffenen Kindes: «Ich bin wütend! Mein Leben wäre einfacher, wenn meine Mutter nicht immer so viel trinken würde.»

Und natürlich begünstigt die Unzuverlässigkeit der Eltern das Misstrauen und führt bei einigen der betroffenen Kinder zu zwanghaftem Verhalten. «Vater hat versprochen, keinen Alkohol mehr einzukaufen. Ich kontrolliere trotzdem nach jedem Einkauf alle Schränke in der Wohnung. Ich kann ihm nicht vertrauen.»

Tatsächlich haben Kinder mit suchtkranken Eltern ein sechsmal grösseres Risiko, selbst ein suchtkrankes Verhalten zu entwickeln oder psychisch zu erkranken. Um diese Schäden zu minimieren, bietet das Blaue Kreuz betroffenen Kindern ein spezifisches Beratungsangebot an und unterstützt sie dabei, gesund aufzuwachsen.

Cornelia Stettler, Leiterin
Kommunikation + Fundraising

 

Weitere Informationen zur Aktionswoche 2022

www.kinder-von-suchtkranken-eltern.ch

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