Ein Jahr danach – Integrierte Suchtbehandlung in Bern

Das Ambulatorium Bern der Klinik Südhang und die Beratungsfachstelle vom Blaues Kreuz arbeiten nun ein Jahr unter demselben Dach. Wie sind die Erfahrungen, wie hat sich die Zusammenarbeit entwickelt? Antworten erhalten Sie im Interview mit Christine Fischer, Leitender Ärztin in der Klinik Südhang Ambulatorium Bern und mit Stephan Streit, Leiter der Fachstelle für Alkohol- und Suchtprobleme vom Blauen Kreuz in Bern.

Stephan Streit: Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen hat sich nochmals intensiviert und ist persönlicher geworden, da sie nicht nur auf Leitungsebene stattfindet. Die Mitarbeitenden kennen die Angebote beider Institutionen und daraus hat sich eine unkomplizierte und doch verbindliche Zusammenarbeit entwickelt.

Christine Fischer: Ich bin mit der Zusammenarbeit auch sehr zufrieden und habe den Eindruck, dass die beiden Institutionen, mit ihren spezifischen Stärken und Besonderheiten, den Klienten und Klientinnen einen niederschwelligen Zugang nicht nur zu medizinischen, sondern auch zu komplementären Hilfsangeboten anbieten können.

 

Grund für den gemeinsamen Standort war die Idee einer integrierten Versorgung im Suchtbereich. Was muss man sich darunter vorstellen?

Christine Fischer: Die integrierte Versorgung stellt für unsere Patient*innen eine Optimierung dar. Es gibt eine einzige Stelle, an die sie sich wenden können. Unter einem Dach stehen vielfältige Therapieangebote zur Verfügung, abgestimmt auf ihre jeweilige Lebensgeschichte und Lebenssituation. Damit die Zusammenarbeit funktioniert, müssen die Teams die Angebote der anderen Institution sehr gut kennen. Es besteht ein Austausch der beiden Teams auf Augenhöhe, fachlich und kollegial. Wir teilen uns auch viele Räumlichkeiten wie die Cafeteria, den Empfang oder das Sitzungszimmer, das gibt Raum für Begegnungen. Diese unkomplizierte Zusammenarbeit wird von meinem Team sehr geschätzt.

 

Stephan Streit: Integrierte Versorgung ist ein wichtiges Thema. Das gesamte therapeutische Umfeld wird in den Beratungsprozess eingebunden und alle bio-psycho-sozialen Aspekte unserer Klientinnen und Klienten gilt es im Blick zu behalten. Dazu braucht es den interdisziplinären Austausch, und die Schnittstellen gilt es zu optimieren. Als Beispiel nehme ich einen Klienten, der aus der Klinik austritt. Bei einer engen Zusammenarbeit können Klienten direkt an eine Beraterin oder an einen Berater aus dem ambulanten Bereich weitervermittelt, allenfalls bereits ein erster Kontakt hergestellt oder ein Termin abgemacht werden. So fällt niemand durch die Maschen der therapeutischen Nachsorge.

 

Welches sind die Vorteile des gemeinsamen Standorts für die Klientinnen und Klienten?

Christine Fischer: Viele Patientinnen und Patienten haben keinen Hausarzt mehr. Ihnen bietet das Ambulatorium Bern der Klinik Südhang beispielsweise die Möglichkeit, sich ohne viel Aufwand von einem Spezialisten suchtmedizinisch abklären zu lassen.

 

Stephan Streit: Nicht alle unsere Klienten benötigen Therapieangebote beider Institutionen. Durch den gemeinsamen Standort wird allenfalls einem Patienten vom Südhang bewusst, dass Sucht nicht nur ein medizinisches Problem darstellt und eine Reihe weiterer Lebensthemen betrifft, welche er bislang nicht angegangen ist. Oder aber einer unserer Klientinnen wird klar, dass der Konsum von Alkohol gesundheitlich keine Bagatelle darstellt und sie, wie Christine bereits erwähnte, zusätzliche medizinische Abklärungen vornimmt.

 

Hat die Zusammenlegung der Standorte Auswirkungen auf den Erfolg der Therapie bzw. Beratung?

Stephan Streit: Wir verfügen über keine Daten, die den Erfolg der Zusammenarbeit belegen würden. Subjektiv würde ich aber sagen, dass der Austausch auch für unsere Klientinnen und Klienten eine positive Wirkung zeigt. Es besteht eine verbindliche Zusammenarbeit des Helfernetzes. Unsere Fachpersonen kennen sich, wissen von den spezifischen Angeboten wie beispielsweise der Männergruppe, der Gruppe für traumatisierte Betroffene, für Betroffene mit Angststörungen, etc.) und können betroffenen Personen direkt weitervermitteln.

 

Christine Fischer: Ob sich die Zusammenarbeit positiv auf den Erfolg der Therapie auswirkt, ist schwierig zu sagen, und wie Stephan angedeutet hat, noch mit keinen Daten belegt. Die Hemmschwelle, sich gerade beim schwierigen Thema Sucht Hilfe zu holen, ist sehr hoch. Wenn verschiedene Therapieangebote am selben Ort angeboten werden, kann die Angst vor einem weiterführenden Therapie- oder Beratungsangebot deutlich verringert werden, was den Therapieerfolg der Patientinnen und Patienten unterstützt.

 

Wie profitieren die Fachpersonen beider Institutionen voneinander?

Stephan Streit: Wie Christine bereits erwähnt hat, haben unsere Klienten/innen häufig keinen Hausarzt. Da ist es praktisch, wenn wir sie für Abklärungen, Blutentnahmen etc. direkt an einen Arzt/eine Ärztin vom Südhang weitervermitteln können. Diese unkomplizierte Weiterweisung stellt für mich als Berater eine grosse Entlastung dar. Ich weiss, meine Klienten sind bei medizinischen Problemen in guten Händen.

 

Christine Fischer: Viele unsere Patientinnen und Patienten nutzen die Angebote beider Institutionen komplementär, nicht als Konkurrenzangebot. Betroffene beispielsweise bei zusätzlichen, eher sozialarbeiterischen, Themen. Oder aber die ganze Arbeit mit Angehörigen, da sind mir als Ärztin in Bezug auf mögliche Therapieangebote die Hände gebunden. Die Leistungen des Ambulatoriums vom Südhang werden über die Krankenversicherung abgerechnet und Angehörige sind ja nicht selbst krank. Ich bin froh, wenn ich Angehörige an eine Fachperson weiterverweisen kann, die sich die notwenige Zeit für deren Begleitung nehmen kann.

 

Wo gibt es noch ungenutzte Chancen bzw. weiteres Potenzial für die gemeinsame Zusammenarbeit?

Stephan Streit: Bei den Abläufen für die gegenseitige Zuweisung gibt es sicherlich noch Verbesserungspotenzial. Ich sehe weitere Chancen z.B. bei gemeinsamer Intervision und bei der Lancierung gemeinsamer Projekte. Dieses Jahr haben zwei Fachpersonen der Klinik Südhang und vom Blauen Kreuz gemeinsam eine Gruppe zum Thema Emotions- und Stressregulation gestartet. Ein grosser Erfolg. Die Gruppe war in kurzer Zeit ausgebucht.

 

Christine Fischer: Im stationären Bereich der Klinik Südhang wurde anfangs 2023 das neue Behandlungsprogramm «Mensch und Sucht» eingeführt, das sich noch konsequenter an den Bedürfnissen der Patient*innen orientiert, und dazu hat sich die Klinik neu aufgestellt. Im nächsten Jahr konzentrieren wir uns auf das Angebot im ambulanten Bereich. Da sehe ich viel Potenzial, wo das Blaue Kreuz und die Klinik Südhang voneinander profitieren können, um unser Angebot noch besser auf die ganz unterschiedlichen Bedürfnisse unserer Patientinnen und Patienten auszurichten. Jeder Mensch funktioniert anders, stützt sein Handeln auf andere Veränderungsmotivatoren. Die einen tauschen sich gerne in Gruppen aus, andere gehen den Weg lieber allein. Wir wollen allen, das für sie erfolgversprechendste Therapieangebot anbieten können. Die Zusammenarbeit mehrerer Institutionen ist in diesem Sinn sehr sinnvoll.

 

Hat sich in der gegenseitigen Wahrnehmung etwas verändert seit dem Zusammenlegen der Standorte?

Christine Fischer: Durch den Austausch kennen wir die vielschichtigen Angebote vom Blauen Kreuz noch besser und können unsere Patientinnen und Patienten noch gezielter weiterverweisen. Ich denke da speziell auch an die Angebote für Kinder aus suchtbelasteten Familien oder auch an die niederschwelligen Arbeitsmöglichkeiten im Treffpunkt Azzurro. Alles in allem war die Zusammenarbeit der beiden Teams sehr angenehm und bereichernd, herzlichen Dank dafür.

Stephan Streit: Auch aus meiner Sicht war der Umzug erfolgreich. Wir fühlen uns wohl in den gemeinsamen Räumlichkeiten. Das Team von Christine ist ein zuverlässiger Partner und ich spüre, dass für die Fachpersonen beider Institutionen die Gesundheit und das Wohl der ihnen anvertrauten Klientinnen und Klienten im Zentrum steht. Für dieses gemeinsame Engagement möchte ich mich bei Christine und bei ihrem Team herzlich bedanken.

Das Interview führte Cornelia Stettler, Leiterin Kommunikation + Fundraising Blaues Kreuz Bern-Solothunr-Freiburg

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