Alkohol als Selbstmedikation

Das Rentenalter stellt für viele Menschen einen Wendepunkt im Leben dar. Oftmals ändern sich die Tagesstruktur, die eigene Rolle und dadurch die Identität. Der Alltag und die Freizeit müssen neu strukturiert und eine neue Lebensmotivation oder ein neuer Lebenssinn gefunden werden. Lesen Sie im Interview wie Herr Walther mit den Herausforderungen umgegangen ist.

Wie er denn zum Blauen Kreuz gelangt sei, wollte ich von Herrn Walther im Interview wissen.
Er lacht und gesteht, dass dies über verschiedene Umwege geschehen sei und ihn viel Überwindung gekostet hat. Bis zu seinem 61. Lebensjahr habe er einen sehr hektischen und verantwortungsvollen Job als IT-Leiter einer grösseren Unternehmung gehabt. Er habe die ganze IT-Entwicklung durchgemacht, von der Lochkarte bis zum virtuellen Server. Um in diesem Umfeld fachlich mitzuhalten, habe er zuletzt jeweils etwa einen Monat pro Jahr in Weiterbildungen investieren müssen. Irgendwann war es ihm, und er kündigte die Stelle mit der Aussicht auf eine Beschäftigung als Buchhalter bei einem kleinen Treuhandbüro. Daraus ist dann leider nichts geworden.

Und so stand er nun da. Vorher stark beschäftigt und abgelenkt, hatte er nun plötzlich viel Zeit. Die habe er gefüllt, indem er sich ehrenamtlich als Rotkreuz-Fahrer engagierte. Als ihm klar wurde, dass er mehr Verantwortung suche, bewarb er sich als Buchhalter bei einer Kirchgemeinde. Die Teilzeitstelle habe ihm gut gefallen und vielleicht wäre er nicht in die Alkoholsucht abgerutscht, wenn ihn nicht gesundheitliche Probleme zusätzlich aus der Bahn geworfen hätten. Alkohol als Selbstmedikation. Ein Herzinfarkt hat die persönliche Lebenssituation von Herrn Walther nochmals komplett auf den Kopf gestellt. Er sei nach der Herzoperation und dem Kuraufenthalt in ein Loch gefallen und habe sich nur noch als halber Menschen gefühlt. Mit dem Mitleid in seiner Umgebung und dem Gefühl, ständig geschont zu werden, sei er schlecht zurechtgekommen. Eine Depression habe sich abgezeichnet, die er sich selbst gegenüber aber nicht eingestehen wollte. Der Alkohol sei eine Art Selbstmedikation gewesen. Gestartet hat die Abwärtsspirale mit einem Glas Weisswein zum Aperitif am Arbeitsplatz, mit der Zeit brauchte er immer mehr. Tatsächlich hatte er zu Beginn das Gefühl, Alkohol täte ihm gut. Schleichend, aber nicht unbemerkt, habe sich sein Alkoholkonsum vom Genuss zur Sucht entwickelt. Zuletzt hatte er ein- bis zweimal pro Woche einen Taucher, wie er seine Abstürze selbst benennt.

Natürlich sei seiner Familie die Veränderung seines Alkoholkonsums aufgefallen.
Seine Frau litt unter der Situation, den Abstürzen, dem Rückzug ihres Mannes und den depressiven Phasen und bat den gemeinsamen Hausarzt, aktiv zu werden. Dieser schlug Herrn Walter einen Entzug in der Klinik Südhang vor. Er habe sich so geschämt. Aus seiner Kindheit war ihm die «Nüechtere» ein Begriff und er war überzeugt, wer dorthin musste, sei für die Zukunft abgeschrieben. Zum Glück habe seine Tochter Druck gemacht und ihn zum Schritt ermutigt. Denn nachträglich betrachtet, sei der Entscheid zum Aufenthalt in der Suchtklinik der beste, den er je getroffen habe. Er habe sich nach dem Entzug gesundheitlich besser und psychisch freier gefühlt. Die Versuche, Normalität zu inszenieren und sich gleichzeitig Alkohol zu besorgen und ihn zu verstecken oder ausserhalb seines Zuhauses zu konsumieren, waren anstrengend.

Wie ist es ihm gelungen, die Situation langfristig zu verändern?
Die Beratungsgespräche beim Blauen Kreuz boten ihm die Möglichkeit, an sich selbst zu arbeiten. Das Wichtigste beim Aufhören ist das eigene Wollen. Ausreden bringen nichts, und er als Familienmensch wollte für seine sechs Enkelkinder wieder ein Vorbild sein. Neben den Beratungsgesprächen helfe ihm der Austausch unter den Blaumeisen, den  Mitgliedern der Selbsthilfegruppe vom Blauen Kreuz in Biel. Die Familie sei für ihn eine grosse Stütze im Alltag. Er wollte sie aber nicht übermässig belasten und findet es hilfreich, sich 14-täglich in der Gruppe unter ebenfalls Betroffenen auszutauschen. Es gebe in der Gruppe eine starke fürsorgerische Komponente und er sei motiviert, seine Erfahrungen weiterzugeben und andere in derselben Situation zu unterstützen. Hilfreich seien die vielen sozialen Kontakte, die Herr Walter pflegt. Da sind zum Beispiel die Kollegen im Kochclub, in dem sie mittlerweile über 400 Menüs zusammen gekocht haben. Diese habe er in seine Probleme mit Alkohol eingeweiht. Er wollte vermeiden, dass er in geselligen Situationen in Versuchung gerät und liess verlauten, dass er aus gesundheitlichen Gründen auf Alkohol verzichtet. Insofern war der Herzinfarkt auch eine Chance. Denn Alkoholprobleme sind noch immer ein Tabu-Thema. Ein Verzicht aufgrund gesundheitlicher Probleme ist einfacher zu erklären und wird vom Umfeld besser akzeptiert.

 

Cornelia Stettler, Leiterin
Kommunikation + Fundraising
Blaues Kreuz Bern-Solothurn-Freiburg

 

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